In der Webdoku-Fiktion Jour de Vote wird der Zuschauer zum frisch gewählten Abgeordneten der französischen Nationalversammlung. Autor Simon Bouisson lief dafür zwölf Drehtage mit einer Canon 5d auf dem Kopf herum. Im Interview erzählt er wie das bei den Politikern ankam, warum Dramaturgie gerade bei interaktiven Geschichten so wichtig ist und doch so oft nicht funktioniert.
Es ist Samstag nachmittag und Simon Bouisson ist gerade vom Urlaub zurück. Erholt, wie er beim Skype-Interiew sagt. Seit seiner Debut-Webdoku Les communes de Paris 2010, ist er ein gefragter Mann. Ein Projekt folgt dem anderen. Am nächsten Tag geht es für ihn zu einem Dreh nach Tokio. Jour de Vote hat er gemeinsam mit seinem Studienfreund Olivier Demangel realisiert.
Wie reagieren die teilweise sehr prominenten Politiker, wenn sie mit einem Typen mit Helm und Kamera vor der Nase reden sollen?
Wir dachten, sie würden das erst einmal total komisch finden, aber ganz im Gegenteil. Alle Gesprächspartner hatten richtig Spaß bei den Interviews, mit dem ganzen Drumherum wie der Begrüßung, dem Händeschütteln und allem was zu der subjektiven Kamera gehört. Man hätte fast meinen können das seien Schauspieler, so gut, wie die mitgemacht haben.
Bei Jour de Vote stimmt der Zuschauer über die fiktive Loi Alexandrine ab. Ein Gesetzesentwurf der es vorsieht, dass alle Künstler ihre Musik, Filme, etc. in eine staatliche digitale Bibliothek einspeisen müssen, von wo sie dann legal runtergeladen werden kann. Die Vergütung dafür soll das Parlament festgelegen. Wieso habt ihr euch gerade dieses Gesetz ausgedacht?
Wir dachten, das sei eine witzige Idee, weil der Zuschauer ja eine gratis Webdoku schaut und sich gleichzeitig Gedanken zu den Autorenrechten im Internet macht. Wir fanden, das passt. Es ist ein Gesetz, das seiner Zeit voraus ist: Innovativ und provokant. Dadurch hatten wir auch ein tatsächliches Diskussionsthema mit den Abgeordneten. Und die haben auch mitgemacht und im Präsens von dem Gesetzesvorhaben gesprochen, ganz so als würde es tatsächlich am selben abend abgestimmt.
Ein roter Faden bei Jour de Vote ist der Assistent, der den Zuschauer begleitet, zu neuen Gesprächspartnern überleitet und die Wahlmöglichkeiten schmackhaft macht.
Ja, das ist ein gutes Mittel um den Zuschauer bei der Stange zu halten. Da es manchmal inhaltlich eher schwer verdauliche Interviews sind, ist es schön ihn jedes mal wieder anzutreffen, mit seinem Humor und seiner Schlagfertigkeit. Denn am Schluss einer Sequenz oder einer inhaltlichen Einheit muss es ganz natürlich und wie aus einem Guss weitergehen, sonst sind die Zuschauer schnell weg. Wer einmal in der Geschichte, im Universum der Webdoku ist, sollte nicht mehr daraus entlassen werden. Bei Jour de Vote wollten wir deshalb auch einen echten Anfang und ein echtes Ende. Morgens steht man auf und am Ende des Tages, das weiß man als Zuschauer, muss man abstimmen. Und das auf der Grundlage dessen, was man über den Tag erfahren hat. Es ist diese Dramaturgie, die es schafft, eine innere Entwicklung, einen Lernprozess beim Zuschauer auszulösen.
Wie gefällt dir die Dramaturgie bei den aktuellen Webdoku-Produktionen im Netz?
Bei vielen Webdokus wird man irgendwie immer wieder auf eine Art Hauptmenü gelenkt, wo man aktiv eine neue Richtung einschlagen muss. Es ist wie eine Kreuzung, auf die man immer wieder geführt wird. Ich selbst gehe dann maximal in zwei Richtungen von vielleicht 50 Angeboten und danach habe ich keine Lust mehr. Besser ist es, wenn der eher faule Zuschauer die Möglichkeit hat, die ganze Geschichte mit wenigen Klicks zu erfassen während die eher Aktiveren mit dem Inhalt und der Geschichte spielen können. Aber nur weil wir im Internet sind müssen wir nicht auf Teufel komm raus die Geschichte zerhacken und alles anwählbar machen, denn dann verliert der Zuschauer den roten Faden. Und das passiert bei vielen Projekten, die zur Zeit auf dem Markt sind. Einfachheit ist, wie letztendlich in jeder Kunstform, ein Zeichen von Qualität.
Wie erklärst du dir, dass viele Webdokus trotzdem auf komplizierte Oberflächen setzten?
Wenn man ein Dossier vorbereitet für ein Projekt und Geld anfragt, dann wollen alle Geldgeber ein Maximum an Modernität und Innovation. Es soll so interaktiv wie möglich sein, die Zuschauer sollen kommentieren oder am besten teilnehmen. Das volle Programm. Meiner Erfahrung nach ist das aber nicht unbedingt gut für die Geschichte oder die Nachricht, die man mit seiner Webdoku rüberbringen will.
Warum wollen Sender das „volle Programm“?
Das Problem ist, dass es kein wirkliches Finanzierungsmodell für Webdokus gibt, denn sie rentieren sich momentan einfach überhaupt nicht. Der einzige Vorteil für den Sender oder die Seite ist es, dass Webdokus modern, interaktiv, innovativ und partizipativ sind und dadurch eine Art Leuchtturmcharakter haben. Das ist der Zugewinn für Sender und Seiten und dafür bekommt man das Geld. Deshalb ist man dann aber auch gezwungen den letzten Schrei der Technik, alle Trends und Innovationen mit zu integrieren. Irgendwann werden vielleicht auch Webdokus wirklich rentabel sein, wenn Fernseher ans Internet angeschlossen sind und die Sehgewohnheiten sich auch von der Mehrheit der Zuschauer ändern. Und dann wird glaube ich auch mehr Einfachheit und Linearität einziehen.
Ihr hattet relativ freie Hand bei der Gestaltung und wart mit 150 000 Euro sehr gut finanziert. Auftraggeber ist die Lehrredaktion von France 5 und das Parlament selbst. Ist Jour de Vote ein Projekt gegen die Politikverdrossenheit bei Jugendlichen?
Nein, Jugendliche waren nie unser Zielpublikum. Eigentlich ist Jour de Vote für die Generation der 20-35-jährigen. Interessanterweise haben uns aber viele Leute gesagt, dass das auch toll für Jugendliche funktioniert. Und dass die Webdoku zeitlos ist, wenn man sie im Unterricht einsetzt. Einfach nur um zu zeigen wie Politik funktioniert. Anstatt vom Parlament als einem abstrakten Ort zu sprechen bekommt man mit Jour de Vote einen guten Einblick in die Parlamentsarbeit. Und es macht Spaß.
Veröffentlichung: Juni 2012
Autoren: Simon Bouisson, Olivier Demangel
Produktion: France Television, Temps Noir
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