Interaktives Erzählen im Netz


Webdoku: Eine lineare Einführung ins interaktive Genre

was ist eine webdoku TitelEine ganze Reihe von Autoren sieht in interaktiven Geschichten die Verheißung für eine neue Art des Erzählens. Und ein Allheilmittel, um Aufmerksamkeit zu bekommen: Von Redaktionen, von Festivals und natürlich vom Zuschauer von morgen, der Internet und Multimedia mit der Muttermilch aufgesogen hat. Und tatsächlich finden Webdokus ein immer größeres Publikum. Doch was ist das eigentlich, eine Webdoku? Ich habe ein paar Antworten auf die großen Fragen zusammengestellt.

Was ist eine Webdoku?

Webdoku, webdoc, Web-Dokumentarfilm, interaktiver Film, I-Doc, Multimedia: Schon die Fülle an Bezeichnungen ist ein Hinweis, dass auch eine Definition dieses neuen Genres schwierig ist. Grundsätzlich reden wir von Geschichten dokumentarischen Charakters, die im Internet erscheinen. Alle Produktionen unterscheiden sich in ihrer Machart, ihrer Oberfläche und ihrem Ansatz. Dennoch haben sie Gemeinsamkeiten.

Neue Rolle des Zuschauers

Bei einer Webdoku ist der Zuschauer durch die Auswahlmöglichkeiten und damit seinen aktiven Einfluss auf die Dramaturgie der Geschichte kein wirklicher Zuschauer mehr. Er reiht sich vielmehr irgendwo zwischen Zuschauer und Autor der Geschichte ein. Zwischen Passivität und Aktivität. Diese Rolle muss er annehmen.

Zuschauer? Surfer?

Die Rolle des Zuschauers ändert sich.

Da der Begriff Zuschauer nicht mehr wirklich funktioniert hat sich in Frankreich der Begriff des internaute herausgebildet. In Deutschland hat sich noch kein neuer Begriff durchgesetzt, ein Vorschlag wäre der eingedeutschte Internaut.

Multimedia

Webdokus haben grundsätzlich keine Grenzen, was die verschiedenen Ausdrucksformen betrifft. Sie sind im besten Sinne multimedial und alles ist möglich: Video, Audioslideshow, Fotogalerie, Text, Audio, Infografik, Karte, Datenvisualisierung, Illustration oder zusätzliche Interviews.

Neue Teamarbeit

Die Fülle an verschiedenen multimedialen Formen bedeutet auch eine Fülle an Aufgaben für Spezialisten. Webdokus entstehen in Teamarbeit. Neben dem Autor sind Designer, Grafiker, Fotografen, Web-Entwickler und Programmierer von Beginn in den Entstehungsprozess eingebunden. Oder wie es der Produzent Peter Wintonick im Buch „A guide to the world of webdocs“ sagt: „A webdoc is a kind of symphony, or at least a chamber music concerto with composeres and conductors, and artists and audiences all playing important roles“.

I Goth My World

screenshot: I Goth my World

Partizipation der Zuschauer

Die meisten Webdokus setzten auf die Partizipation des Zuschauers und bieten zumindest die Möglichkeit, mitzudiskutieren, eigene zu Bilder zu posten, bei Wettbewerben mitzumachen, zu wählen, usw. Im Idealfall kann eine Webdoku auch noch Jahre nach Erscheinen eine aktive Plattform für bestimmte Themen oder eine Community sein. Ein Beispiel dafür ist I Goth my World über die Goth-Szene.

Transmedia/Crossmedia

Die Finanzierung von interaktiven Formaten ist weiterhin schwierig. Die Produktion ist nicht zuletzt durch die aufwendige Programmierung teuer – das Zuschauerinteresse ist immer noch eher gering: Geld kann man mit Webdokus nicht machen! Deshalb setzen viele Webdokus auf transmediale Mehrfachverwertung und sind von vorneherein für unterschiedliche Medien gedacht. Das beste Beispiel ist die neueste Arte-Produktion „Alma – Ein Kind der Gewalt“: Neben der Webdoku gibt es einen Dokumentarfilm, eine Smartphone-App, ein Buch und eine Ausstellung. Die Präsenz in den sozialen Netzwerken ist sowieso vorausgesetzt.

Wer macht eigentlich Webdokus?

Eine ganze Reihe altgedienter Dokumentarfilmer und Fotografen suchen im Genre neue Möglichkeiten ihre Geschichten umzusetzen. Dazu kommen junge Autoren, die mit den Möglichkeiten des Internets aufgewachsen sind. In Frankreich setzen jetzt schon viele Journalismusschulen auf eine Webdoku-Ausbildung, Seminare zu interaktivem Erzählen boomen. In Deutschland haben die Dokumentarfilmfeste in Leipzig und Kassel in diesem Jahr ihren Praxisschweropunkt auf interaktives Erzählen gelegt.

Wie hat sich das Genre Webdoku entwickelt?

screenshot: Thanatorama.com

screenshot: Thanatorama.com

Das erste Mal soll der Begriff „web documentary“  2002 beim „Cinema du Réel Festival“ vom Centre Pompidou in Paris verwendet worden sein. Die erste Produktion, die man nach heutigen Standards als Webdoku bezeichnen würde, kam 2005 heraus: „La cité des morts – Ciudad Suarez“ von der Pariser Produktionsfirma Upian um Alexandre Brachet. Immer noch absolut sehenswert ist „Thanatorama“ von 2007: Eine dunkle Reise zu Krematorium, Präparator und Friedhof. Der Zuschauer wird direkt angesprochen: „Sie sind tot. Wollen Sie wissen, was mit ihrem Körper passiert?“ (Wer auf „Nein“ klickt, landet übrigens auf der Google-Startseite.)

2008 folgt mit Artes „Gaza-Sderot“ eine Webdoku, die in Echtzeit das Leben von Menschen auf beiden Seiten der Grenze zwischen Gaza und Israel zeigt. Die Grenze findet sich als kontinuierliches Element auf allen Menü- und Wahlebenen. Im gleichen Jahr kam von der Pariser Produktionsfirma Honkeytonk  „Voyage au bout du charbon“ heraus. Der Aufbau lehnt sich stark an Adventuregames wie Monkey Island an. Der Zuschauer navigiert durch eine Welt und erhält die Möglichkeit selbst zu entscheiden, wohin die Entdeckungsreise gehen soll. Erstmals nutzt eine Webdoku explizit die Game-Optik und Logik. Viele weitere in dieser Machart folgten. Auch die Deutsche Welle nutzt diesen Ansatz um ihre Webdokus zu erzählen.

Vanuatu-DW

DW-Webdoc „Namatis Welt“. Screenschot: dw.de

2010 gilt als das Jahr, in dem das Genre Webdoku seinen Durchbruch hatte. Mit „Prison Valley“ bekam eine interaktive Produktion auch erstmals die Aufmerksamkeit eines größeren Publikums. In den ersten acht Monaten zählte die Seite 600 000 Besucher. Bis dahin absoluter Rekord. Die Arte-Produktion räumte alle großen Preise ab und gilt immer noch als Referenz. Es folgten 2011 die NFB-Produktionen „Welcome to Pine Point“, das einem Buch ähnelt und Bear 71, das den Zuschauer auf eine interaktive Welt loslässt und keinerlei Richtung vorgibt.

Was ist die richtige Dosis Interaktivität?

Interessanterweise haben beim Zuschauer erfolgreiche Webdokus einen relativ hohen Grad an Linearität und sie vermeiden zu viele Auswahlmöglichkeiten. Bei vielen Webdoku-Produktionen lässt sich tatsächlich darüber streiten, ob die Interaktivität der Geschichte zuträglich ist oder nicht. Der Gamedesigner Florent Maurin spricht von einem „Informations-Tsunami“, wenn vor lauter Auswahlmöglichkeiten die Angst aufkommt, etwas vom Inhalt zu verpassen. Das ist Gift für die Geschichte, denn die Aufmerksamkeitsschwelle beim Zuschauer ist vorm PC sehr gering: Ein bißchen Langeweile oder Konfusion und mit einem Klick wechselt er rüber zu Facebook oder E-Mail-Fach. Simon Bouisson von Jour de Vote hat das so zusammengefasst: „Besser ist es, wenn der eher faule Zuschauer die Möglichkeit hat, die ganze Geschichte mit wenigen Klicks zu erfassen, während die eher Aktiveren mit dem Inhalt und der Geschichte spielen können. Aber nur weil wir im Internet sind müssen wir nicht auf Teufel komm raus die Geschichte zerhacken und alles anwählbar machen, denn dann verliert der Zuschauer den roten Faden.“

Dreharbeiten zu Jour de Vote.

Dreharbeiten zu Jour de Vote.

Wohin geht der Trend?

Der Trend geht in die Richtung „Weniger ist mehr“. Auch mit den interaktiven Möglichkeiten wird das Internet die grundsätzliche Dramaturgie einer Geschichte nicht ändern – und die hat ein Anfang und ein Ende. Wahlmöglichkeiten werden bewusster gesetzt werden, lineare Elemente eher an Bedeutung gewinnen. Ganz radikal anders sieht das der deutsche Florian Thalhofer. Sein Korsakow-Institut propagiert das „Ende der Linearität“.

„Jedes Mal muss die Interaktivität neu interpretiert sein“, sagt Alexander Knetig von Arte Webproduktionen. Der Sender ist einer der größten Produzenten und eine wichtige Plattform für interaktive Formate.  Mehrere hundert Webdoku-Vorschläge von Autoren erreichen die Redaktion mittlerweile pro Jahr –  nur sieben oder acht werden produziert. Eine der aktuellen Webdokus ist die bereits genannte „Alma – Ein Kind der Gewalt“, die sehr erfolgreich gestartet ist, mit hunderttausenden Klicks nach nur wenigen Tagen.

almamenu
Interaktivität bedeutet hier, dass der Zuschauer entscheidet, ob er mit der Maus (oder auf dem Tablet-PC mit dem Finger) über ein lineares Interview der Protagonistin Alma Fotos und Filmaufnahmen legt, oder bei ihr bleibt und in ihr Gesicht schaut, während sie erzählt. Eine vom Grundsatz her einfache Lösung, die nicht weit von einem linearen Film entfernt ist. Die relativ einfache Umsetzung soll vor allem Nutzern der Tablet-Version gerecht werden, die intuitiv mit dem Finger navigieren können. Man kann davon ausgehen, dass in Zukunft keine größere Produktion ohne App auskommen wird. Zu verführerisch sind die Möglichkeiten, die ein Tablet-Touchscreen bietet. Ganz abgesehen vom neuen Zuschauermarkt bei steigenden Tablet-Absätzen, auf den Internet-Formate in Zukunft verstärkt setzen werden.

Was sollte man gelesen haben?

Einen schönen Überblick zum Thema mit Gastbeiträgen von den wichtigsten Webdoku-Machern bietet das Buch “Webdocs… a survival guide for online filmmakers”, unter anderem auch mit  Praxistipps zur Finanzierung.survivalguide

Wann und warum fesselt eine eine gute Webdoku den Zuschauer und wie sollte man die Interaktivität dosieren? Dazu hat sich der Gamedesigner Florent Maurin interessante Gedanken gemacht. Tief ins Detail geht Arnau Gifreu mit seiner wissenschaftlichen Definition “The Interactive Documentary. Definition Proposal and Characterization of the New Emerging Genre”. Zum Schluß ist hier noch eine Twitter-Liste mit lesenswerten Kontakten.

Das erste Berliner Webdoku-Treffen am 18. Januar 2013 legt einen Schwerpunkt auf die Finanzierung von Webdokus in Deutschland. Ein ausführlicher Artikel zum Treffen und zur Finanzierung folgt dann auf webdoku.de. Ich freue mich über Kritik, Tipps, Anregungen und Ergänzungen zu diesem Artikel.

3 Responses to “Webdoku: Eine lineare Einführung ins interaktive Genre”

  1. […] ist, wie man sie produziert und noch eine ganze Reihe guter Tipps, finden sich   bei webdoku.de. Eine Seite, die man sich in die Lesezeichen legen sollte, wenn man sich für dieses Thema […]

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